Viele neue Erfahrungen!

Obwohl wir eigentlich alle, - uneigentlich alle außer Anna-Maria und Florian - noch ein wenig krank und erkältet waren, gingen wir am Samstagabend zu einem Konzert der Extraklasse! Für uns war hauptsächlich die letzte Vorband interessant, The Wailers (Auch bekannt unter “Bob Marley Band”), die viele bekannte Songs wie “Don’t worry, be happy”, “Buffalo Soldier” oder “One Love” von dem berühmten Club27-Mitglied gespielt haben.

Bei der Band, für die das Konzert ausgerichtet war, ist die peruanische Bevölkerung buchstäblich ausgerastet: Biergläser sind über das Festivalgelände geflogen, das Gelände bebte und viel Marihuana wurde geraucht, was meiner Nase nicht allzu gut gefiel.

Gegen halb zwei in der Nacht endete dieses Spektakel und ich war sehr froh, miterlebt zu haben, wie die peruanische Meute so ein Konzert feiert: Springend, hüpfend und singend.

 

Am nächsten Morgen durften die Mädels, Jungs und ich nicht nur unsere Taschen für die Fahrt nach Quiquijana packen, sondern auch Marina vom Flughafen abholen, die um 8:20 Uhr gelandet ist. Da Lili so freundlich war und mit dem Auto losgefahren ist, um sie abzuholen, konnten nur drei weitere Personen mitfahren. Anna-Maria, Franca und Regina machten sich also auf den Weg unsere siebte Person im Bunde abzuholen und sie ein wenig in das peruanische Stadtleben einzugewöhnen, während ich ausschlief – Manchmal mag das Leben mich!

 

Am Nachmittag gingen wir zu fünft, alle Mädchen, zusammen zu dem Markt an San Blas, um ihn Marina zu zeigen. Dort spielte zudem eine Band und eine Bühne war aufgebaut. Außerdem konnte man dort viele Kleidungsstücke von anderen Kulturen kaufen. So war beispielsweise Indien mit den weiten, coolen Hosen vertreten, die allerdings sehr teuer waren – Der Gedanke in Peru, in Südamerika indische, asiatische Kleidung zu kaufen, gefällt mir aber auch nicht.

Allerdings hatten Franca und ich vor am diesem Wochenende uns eine Tischdecke für unser Zimmer in Quiquijana zu besorgen; leider jedoch vergeblich.

Nach diesem anstrengenden Flug war Marina - irgendwie selbstverständlich - sehr müde und wir brachten sie noch zu ihrer Gastfamilie. Sie wird in den nächsten Wochen bei der Schwester von Lili (Betty) schlafen, deren Haus sich direkt neben dem Optikerladen befindet, der Lili gehört. Regina, Franca und ich haben dann noch für alle ein wenig Milch und Müsli für das Frühstück in Quiquijana gekauft, um eine Alternative zu Brötchen mit Erdbeermarmelade zu haben, die uns allen schmeckt.

 

Um noch einmal auf das Thema „Krank sein“ in Peru zurückzugreifen: Mittlerweile wissen wir auch alle, dass das Wasser hier in Quiquijana wirklich so schmutzig ist, wie uns bei uns der Vorbereitung auf unser Jahr in Südamerika verdeutlicht wurde. Dass wir allerdings dieses Wasser absolut unter keinen Umständen beispielsweise zum Zähneputzen benutzen dürfen, wurde uns erst klar, als wir das Wochenende flach in unseren Betten lagen.

Obwohl ich mir jetzt für diese Woche einen Wasservorrat gekauft habe und mein aus Deutschland mitgebrachtes Desinfektionsmittel benutze, hat es mich in der Donnerstagnacht das zweite Mal erwischt. Wir alle müssen unsere Lebensweise hier in dem vollkommen anderen Kontinent ändern und vorher versuchen zu prüfen, was wir vertragen und was nicht.

 

Am Sonntagnachmittag sind wir wieder zeitig von Cusco nach Quiquijana gefahren, da wir sehr gerne den Gottesdienst besuchen wollten, der uns am letzten Sonntag so begeistert hat. Allerdings wurden wir von den Schwestern dahingehend ein wenig enttäuscht, da uns von ihnen mitgeteilt werden musste, dass der Pastor von Quiquijana an diesem Sonntag verhindert ist.

 

Damit mein Blog aber trotzdem einen religiösen Hauch verliehen bekommt, möchte ich an dieser Stelle von der Predigt erzählen, die wir am letzten Sonntag hören durften:

Sie handelte von einem kleinen Jungen, der sich im Wald verlaufen hatte. Dort findet er einen Raum, in dem viele brennende Kerzen stehen, die alle von unterschiedlicher Größe sind. Manche Kerzen bzw. Öllampen haben noch eine lange Brenndauer, andere jedoch waren kurz davor, zu erlöschen. Im Laufe der Zeit erfährt der Junge, dass jede Kerze für ein Menschenleben steht. Manche Menschen werden noch lange leben - wahrscheinlich noch viele Jahre -, andere stehen kurz vor dem Tod. Der Pastor versuchte den Kindern damit zu verdeutlichen, dass man nie wissen kann, wann ein Leben zu Ende geht und dass man daher seine Familie lieben, Freunden helfen und das Leben voll und ganz ausschöpfen soll, weil man nie wissen kann, wann es zu Ende ist. - Ich für meinen Teil kann euch versichern, dass ich hier mein Leben in Peru in vollen Zügen genieße!

 

Da uns aber Schwester Polly mitteilen musste, dass uns für diese Woche dieser spirituelle Input verwehrt bleibt, entschieden wir uns dazu ein wenig früher als sonst zu Abend zu essen und anschließend auf unsere Zimmer zu verschwinden, da wir uns sicher waren, dass uns eine anstrengende Woche erwarten wird.

Gesagt, getan: Nach einer leckeren Gemüsesuppe aus dem Hause Knorr ging ich zusammen mit Franca und Marina zum Schwesternhaus und wir fielen kurze Zeit später in unsere Betten.

 

Obwohl wir uns am Ende jeder Arbeitswoche uns auf unser „zu Hause“ in Cusco bei unsere Gastmutter Lili freuen – meist aus dem Grund, dass die Zeit bei Lili „Freizeit“ und „Skypen mit meiner Familie“ bedeutet –, war ich diesen Sonntag auch wieder glücklich durch die Straßen Quiquijanas zu schlendern und die Kinder zu begrüßen, die uns wieder mit offenen Armen entgegenliefen.

 

Am Montagmorgen klingelte wie selbstverständlich unser Wecker gegen sieben Uhr, der uns dezent darauf hinweisen wollte, dass ein langer Arbeitstag beginnt.

Da wir in der letzten Woche noch keinen Computer- und Englischunterricht geben mussten und trotzdem abends fix und fertig in unsere Betten fielen, konnten wir uns gar nicht vorstellen, eine weitere Stunde zu unterrichten.

Um 7 Uhr morgens allerdings liegt der Englisch- und Computerunterricht - glücklicherweise - noch in weiter Ferne und so machten Franca, die Jungs und ich uns auf den Weg zum Frühstückstisch. Marina durfte sich ausschlafen, damit sie sich noch ein wenig besser an die Höhe gewöhnen konnte und die Kinderkrippe (auf Quechua Wawa Wasi genannt), in der sie arbeiten wird, würde für sie auch erst morgen beginnen, teilten uns die Schwestern mit.

 

Wir sechs Freiwilligen gingen also mit dem Triciclo bewaffnet zur Chacra, wo viel Arbeit auf uns wartete. Zum einen durften wir wieder viel ernten: Von Tomaten über Salat, Blumenkohl, Cilantro und Petersilie bis hin zu vielen großen Mangoldblättern. Andererseits durften wir auch die Wurzeln des Blumenkohls mit voller Kraft aus der Erde reißen, die rote Beete von übermäßig vielen Blättern befreien und hier und dort ein wenig Unkraut jäten.

Im Anschluss haben wir uns mit Pavela über die Kinder der Albergue unterhalten, von denen die meisten eine sehr schreckliche Geschichte tragen. Selbstverständlich werde ich an dieser Stelle nicht weiter ins Detail gehen. Ich kann für meinen Teil nur jetzt viele Kinder in ihrer Art und Weise besser verstehen und auch nachvollziehen, warum sie genau so handeln, wie sie handeln.

Pavela ist eine nette Person, die sich sehr liebevoll und fürsorglich um die Kinder kümmert. Sie sagt uns gerne, wie lieb sie diese Kinder hat und betont auch hin und wieder, dass es sich so anfühlt, als wären sie ihr eigenes Fleisch und Blut.

Mit uns versucht sie wie eine Familie, freundschaftlich zusammenzuarbeiten. Und bisher klappt das einwandfrei.

 

Am Freitagmorgen, als ich krank im Bett liegen musste, kam sie vorbei und erkundigte sich, wie es mir geht. Ich wurde zu heißem Wasser trinken verdonnert und selbstverständlich auch dazu gezwungen, eine Kleinigkeit zu essen. Sie erklärte mir erneut im Detail warum unsere deutschen Mägen das Wasser und das Essen in Peru nicht gut vertragen können – und dabei wollte ich nur eines: Schlafen, was mir die ganze Nacht nicht möglich gewesen ist.

 

Sie hat aber auch Recht, wenn sie sagt, dass es sich im ersten Moment so anfühlt als wäre man mit einer Zeitmaschine 40 Jahre in die Vergangenheit gereist, wenn man in das kleine Andendörfchen Quiquijana fährt. Diese Aussage ist mir vor allen Dingen am Dienstag wieder in den Sinn gekommen, als zwei Kühe dazu benutzt wurden, Kuhlen in die Erde zu pflügen, um dort Maissamen einzupflanzen. In Deutschland verwenden die Bauern dafür wie selbstverständlich ihre Maschinen und der Gedanke, dass das jedoch vor einem halben Jahrhundert genau so aussah wie hier, rüttelte mich aus der Illusion, dass bei uns schon lange alles “gut und besser” war - und damit sage ich nicht, dass es so ist oder dass ich das denke!

 

Am Dienstag wartete im Allgemeinen ein sehr harter Arbeitstag auf der Chacra auf uns, da der Mann von Juana begonnen hat mit einem Traktor das Feld für die Maissaat zu bearbeiten. Dabei ist sehr viel Rasen unter die gute Erde gemischt worden, der von uns Freiwilligen gefunden und weggetragen werden musste. Ich hätte niemals gedacht, dass sich in diesem Feld so viele Grasnarben befinden könnten, wie wir am Ende gefunden haben. Im Anschluss, wie ich bereits berichtet habe, haben die beiden Kühe Kuhlen in die vorbereitete Erde gepflügt. Während Anna-Maria und Florian damit beschäftigt waren, Maissamen und Dünger in die Kuhlen zu streuen, durften Regina, Benjamin und ich erneut die großen Erdklumpen zerkleinern, durch die die Maissamen keine Chance hätten zu gedeihen. Die kleine vierjährige Tochter von Juana, Cielo, hilft uns fast jeden Tag ganz fleißig bei der Gartenarbeit. Ihr Spezialgebiet ist das Unterscheiden von Unkraut (malas hierbas) und »guten Pflanzen«, wie zum Beispiel kleine Tomatenpflanzen, die hin und wieder versehentlich ausgerissen werden. Sie ist ganz schön pfiffig und schlau für ihr Alter und kann manch einem von uns auch bei der Gartenarbeit einen vom Pferd erzählen, ohne, dass wir es merken würden.

Heilfroh war ich, als Juana uns rief, eine Trinkpause einzulegen. Es gab von ihrem selbstgemachten weißen Chicha, der auch aus Mais hergestellt wird. Während die rote Variante von Chicha (Chicha Morada) sehr süß ist, ist der weiße Chicha sehr sauer und trifft nicht ganz meinen Geschmack. Kurze Zeit später durften wir uns auch auf den »Heimweg« zum Jugendhaus, bzw. zum Schwesternhaus machen.

 

Wenn wir dann durch die Straßen Quiquijanas gehen und die Menschen dort grüßen, werden wir immer noch ein wenig merkwürdig von der peruanischen indigenen Bevölkerung gemustert, obwohl wir uns an der ein oder anderen Stelle - wie beispielsweise bei der Polizei - als die “neuen Freiwilligen aus Deutschland” vorgestellt haben. Dennoch werden wir hin und wieder wie die Hauptattraktion des Jahres angesehen.

Ein Mann rief uns letztens von weitem “Immer diese Amerikaner” zu, allerdings bot sich für uns keine Gelegenheit, ihm zu erklären, dass wir aus Deutschland kommen und im Jugendhaus sowie auf der Chacra arbeiten, um sein Dorf zu unterstützen.

 

Um einmal zu einem ganz anderen Thema zu kommen:

Im Jugendhaus gibt es eine neue Schwester. Neben Cecilia und Sör Nelly, die aus Kolumbien kommen, bekommt Hermana Polly Unterstützung von Hermana Delfina, die ebenfalls wie sie aus Peru stammt. Delfina und Polly kann ich noch ein bisschen besser verstehen als Cecilia und Nelly, aber ich denke, dass ich im Laufe der Zeit auch den kolumbianischen Dialekt gut verstehen kann.

Ich finde es immer sehr süß, wenn die kleinen Mädchen und Jungen die Schwestern mit “Hermanita” ansprechen, was auf Deutsch so viel bedeutet wie “Schwesterchen”. In Peru benutzt man allerdings sehr häufig den Diminutiv: So heiße ich meist auch gar nicht mehr »Anna«, sondern »Anita«, meine Zimmergenossin Franca »Francita« oder besonders schön anzuhören ist es, wenn aus dem Namen »Anna-Maria«, »Anita - Marita« wird. ♥

 

Zudem hat am Dienstagabend um 19:30 Uhr endlich der Englisch- und Computerunterricht begonnen. Während Anna-Maria, Benjamin und Florian Computerunterricht erteilen, werden Franca, Regina und ich in dem ersten Halbjahr, in dem wir hier sind, jeden Montag, Dienstag, Mittwoch und Donnerstag Englischunterricht geben und den Kindern versuchen, die englische Grammatik schmackhaft zu machen.

Dass das nicht ganz einfach werden wird, stellten wir in der ersten Unterrichtsstunde bereits fest, in der wir ein wenig mit Schrecken bemerkt haben, dass es den 15 bis 17 jährigen Jugendlichen schwer fällt, auf Englisch zu sagen, wie sie heißen und wie alt sie sind.

 

Besonders freue ich mich darauf, den Unterricht für die Schüler zu planen, Plakate, Tafelbilder und Präsentationen zu entwerfen und vielleicht auch mal mit den Kindern zu singen. „Lemon Tree“ ist für mich ein heißer Favorit! Ich finde es ist ein tolles Gefühl, den Jugendlichen etwas beibringen zu können, vorne zu stehen und zu unterrichten, auch wenn man sich häufig durchsetzen muss und laut werden muss, um um Ruhe zu bitten.

 

Diesen Mittwoch wurden wir das erste Mal nicht von Wayra begleitet, als wir uns auf den Weg zur Chacra machten. Wayra ist der süße Hund der Albergue - ein mittelgroßer Haski mit blauen Augen. Sein Name bedeutet auf Deutsch »Wind« und der Name passt wie die Faust aufs Auge. Dass der Kleine noch von keinem Auto erfasst wurde, ist ein kleines Weltwunder, wenn man immer wieder sieht, wie er über die Straßen pest und die Autos, die dort fahren, schlichtweg ignoriert. In der Albergue gibt es außerdem mehrere Katzen und wir können es gar nicht erwarten, wenn eine von ihnen in drei Monaten Junge bekommt. Vielleicht wird es ein schönes Weihnachtsgeschenk, da man der Mutterkatze einen Monat Zeit geben muss, bis sie ihre Kinder an uns »frei« gibt.

Die meiste Zeit des Mittwochvormittags verbrachten wir damit, 46 Löcher in die Erde zu graben, in die in fünfzehn Tagen Salatsamen eingepflanzt werden. Zudem haben wir wieder sehr viel geerntet. (Von Blumenkohl und Mangold über Petersilie, Salat und Cilantro bis hin zu vielen, sehr vielen Tomaten)

 

An diesem Mittwoch hatte Cielo allerdings keine große Lust ihr Fachwissen zu benutzen, stattdessen lenkte sie uns von der schweren Arbeit, die Löcher zu graben, ab, indem sie mit jedem von uns ihr geliebtes Puzzle – selbstverständlich mitten im Feld – lösen wollte.

 

Seit meinem Missgeschick mit dem Triciclo habe ich das Gerät allerdings kein zweites Mal samt dem ganzen Gemüse bewegt - Für die Zukunft habe ich jedoch vor, noch einmal zu probieren, da ich mich nicht ein ganzes Jahr vor dieser Aufgabe drücken kann.

Besonders freue ich mich immer, wenn wir von der Chacra zurückkommen und eine warme Dusche auf mich wartet, was hier weitestgehend keine Selbstverständlichkeit ist.

Unser Bad ist hier zudem ziemlich groß und bietet genug Platz, für alle Dinge, die wir aus Deutschland mitgebracht haben.

 

Wie ihr bereits auf den Bildern sehen könnt, die ich gepostet habe, ist unser Zimmer im Allgemeinen sehr groß. Verschönert wurde es noch mit vielen Bildern von Franca und mir, die wir aus Deutschland mitgebracht haben. Wenn ich morgens aufwache, blinzle ich zuerst auf eine große Collage aus all meinen Freunden. Ein sehr schöner Start in den Tag! Wenn wir uns jetzt noch dieses Wochenende eine Tischdecke und zwei Tassen kaufen, hat das Zimmer endlich einen Touch der ganz persönlichen Note und wirkt nicht mehr so leer.

 

Um noch ein wenig von den Kindern zu berichten: Nachdem wir uns am Montagmorgen nach der Chacraarbeit mit Pavela über das Leid der Kinder unterhalten haben, gehen mir ihre Worte einfach nicht mehr aus dem Kopf. Auch wenn ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, dass mich ihre Vergangenheit traurig stimmt, sitze ich ab und zu am Abendbrottisch und bin wie in einem Bann gefangen. Während manche von ihnen auf dramatische Art und Weise beispielsweise ihren Vater verloren haben, sind andere Mütter alleinerziehend, da sie mit dem kleinen Säugling sitzen gelassen wurden. Nicht nur ein Kind wurde von den Eltern geschlagen, sodass das Projekt, in dem ich hier arbeite, ein Segen für viele ist, um menschenwürdig aufzuwachsen. Viele Mädchen und Jungen bekommen am Wochenende stets zu spüren, dass sie eigentlich gar nicht erwünscht sind und bloß wieder in die Albergue abhauen sollen, damit sie den Eltern nicht mehr im Wege rumstehen. Diese unterkühlte Beziehung zwischen Mutter, Vater und kleinem Kind schockt mich jeden Tag aufs Neue, auch wenn ich mir bewusst bin, dass in bei uns in Deutschland auch viele Mütter alleinerziehend sind oder ihre Babys in eine Kinderkrippe abgeben. Ich habe jedoch so viel Leid noch nicht auf einmal gesehen und mein Herz blutet, wenn die Kleinen mich anspringen und ich mir vergegenwärtigen muss, dass ihre Eltern „so etwas“ nie mit ihnen machen. Mich rührt der Gedanke, dass ich von manchen Kindern der Albergue als „Vorbild“ angesehen werde. Hinsichtlich, wie ich mein Leben gestalte und wie ich auftrete.

 

Die Hausaufgabenbetreuung ging mir diese Woche schon viel einfacher von der Hand, da sich meine Spanischkenntnisse stark geweitet haben. Das hat auch Pavela, die ebenfalls immer bei der Hausaufgabenanfertigung hilft, bemerkt und mir die Namen „kleiner Sonnenschein“ und „strahlendes Licht“ verliehen. Sie könne gar nicht glauben, dass ein Jugendlicher in einer Woche solche Fortschritte machen könne.

Meine Schüler, auf die ich ein wenig aufpasse – hauptsächlich mache ich mit ihnen zusammen ihre Englischhausaufgaben – respektieren mich jetzt auch deutlich mehr. Auch wenn sie gerne laut lachen, wenn ich mich im Spanischen verspreche, ein Satz gar keinen Sinn gibt oder ich absolut nicht verstehe, was sie mir gerade sagen wollen.

Hier kann ich auch eine kleine Anekdote erzählen, die sich so bei der Hausaufgabenbetreuung abgespielt hat: Die Schüler haben sich danach erkundigt, wer genau Marina ist und was sie hier tut. Wahrheitsgemäß habe ich ihnen geantwortet, dass sie eine Studentin aus Deutschland ist, die in Peru ein Praktikum absolviert und daher den WawaWasi besucht, die Kinderkrippe im Ort. Über meine Aussprache des Wortes „WawaWasi“ lachten die Jugendlichen besonders laut. Als ich sie allerdings darum gebeten habe auf Englisch „I am fifteen years old“ zu sagen, waren sie plötzlich ganz still und schienen begriffen zu haben, dass es für uns sehr kompliziert ist, Wörter auszusprechen, die aus der Sprache Quechua stammen, während sie große Probleme mit der Aussprache englischer Worte haben.

 

Diese Kinder – meine Jugendlichen, um die ich mich kümmere – lassen sich gar nicht anmerken, was sie in der Vergangenheit alles durchgemacht haben. Pavelas Worten nach zu urteilen, haben sieben von zehn Kindern, die in der Albergue leben, Probleme mit ihrem Vater, der sie schlägt, in großen Mengen Alkohol trinkt oder die Mutter verlassen hat.

 

Manchmal merkt man allerdings, dass die Kleineren ihren Eltern bzw. ihrem Vater nacheifern, in dem sie ihre Klassenkameraden und Freunde schlagen, da sie sie genau diese Verhaltensweise von ihren Eltern vorgelebt bekommen.

Von vielen Kindern kennen wir die „Lebensgeschichte“ nicht, von anderen kennen wir kurze Ausschnitte oder harte Phasen. Einerseits bin ich sehr gerührt, dass ich daran teilhaben darf und sie mir von diesen Erfahrung aus ihrer Vergangenheit erzählen, andererseits möchte ich ihnen dann die Liebe geben, die ihnen fehlt. Der Zwiespalt, der dadurch für mich entsteht, ist immens: Zum einen muss ich mir vergegenwärtigen, dass ich in elf Monaten Quiquijana wieder verlassen werde und ihnen keine weitere Enttäuschung zumuten kann und darf aber auf der anderen Seite kann ich nicht unterkühlt die Geschichten anhören und zusehen, wie sie – teilweise – daran innerlich kaputt gehen.

Viele der Kinder denken sich Geschichten aus, die sie uns erzählen, die ihre Traumwelt darstellen. „Die perfekte Familie aus dem Bilderbuch“, könnte eine Überschrift dieser Geschichten sein und man merkt deutlich, wenn die Kleinen fantasieren und wann nicht.

Die zerbrochenen Familien, die bei ihnen zu Hause vorherrschen, sind selten Gesprächsthemen. Häufiger hören wir uns eben diese Geschichten an und erfreuen uns an dieser träumerischen Fantasie.

 

Bei den Kindern, die glücklicherweise noch beide Elternteile haben und von ihnen geliebt werden, versuchen Mutter und Vater oft, ihnen eine gute Schulbildung zu ermöglichen, damit sie vielleicht einmal die Menschen sind, die Quiquijana verändern können, eine bessere, menschenwürdigere Zukunft haben und nicht mehr unter den armen Verhältnissen leben müssen, unter denen sie im Moment aufwachsen. Allerdings wurde uns von Pavela auch bewusst gemacht, dass die Männer und Frauen, die in Quiquijana arbeiten weniger als die Hälfte verdienen, als die Menschen, die eine Arbeit in Cusco haben.

 

Nach außen hin sind peruanische Mädchen und Jungen sehr tapfer und stark. Selten sieht man mal ein Kind weinen, es entspricht nicht dem Bild der heilen Welt. Letztens gab es ein Mädchen, dessen großer Zeh komplett offen war. Bei uns hätte dieses Mädchen wie am Spieß geschrien, ihr kullerten aber nur zwei, drei kleine Tränen über ihre Wangen und man konnte deutlich erkennen, dass es ihr sichtlich unangenehm war, vor uns zu weinen.

 

Als wir am Mittwochabend versucht haben den Englischunterricht für den Rest der Woche zu planen, hat uns Pavela deutlich erklärt, dass nicht alle peruanischen Schüler auf „so einem niedrigen Niveau“ Englisch sprechen, wie die Kinder, die in Quiquijana aufwachsen.

Die Schüler und Schülerinnen, die beispielsweise das Privileg haben in Lima zur Schule zu gehen, können weitestgehend so gut sprechen, wie deutsche Schüler, wenn nicht sogar besser, sagt sie. Das große Problem, das hier vorherrscht, ist vor allen Dingen die Aussprache. Sätze wie „I am“ bereiten den fünfzehn bis achtzehnjährigen in der Albergue schon immense Probleme – Nahezu unvorstellbar für unsereiner.

Ihre Idee den Unterricht zukünftig über PowerPoint zu planen, gefällt nicht nur uns sehr. Auch die Kinder werden schlichtweg begeistert sein, da sie alles was mit Technik und Computer zu tun hat, deutlich mehr interessiert als Englisch zu lernen.

 

Dass das aber eine hohe Priorität für die Kinder haben sollte, muss Pavela uns eigentlich nicht klar machen. Leider ist das aber noch nicht voll und ganz bei ihnen angekommen. Sie ist sich jedoch sicher, dass es die Kombination aus Englisch und Technik, also in unserem Falle PowerPoint, machen wird, um die Schüler der Albergue zu motivieren.

 

In einem anderen Gespräch hat sie uns die Problematik erläutert, dass viele Kinder und generell die meisten Männer und Frauen in Peru nicht wissen, „wo sie her kommen“. Sie meint damit, dass wir in Deutschland alle einen Stammbaum und ein Stammbuch besitzen, in dem wir nachlesen können, wer unsere Vorfahren waren. Hier in Peru gibt es Pavela nach zu urteilen so etwas nicht. Ihren einen Großvater kennt sie beispielsweise überhaupt gar nicht und der andere erzählte ihr nie die Wahrheit, als sie ihn fragte, in welchem Land er geboren sei. Ob er nun wirklich aus Chile, Peru oder Brasilien stammte, weiß sie nicht recht, aber ob er es überhaupt wusste, sei eine andere Frage. Und genau darin liegt das andere Problem: Acht von zehn Peruanern haben ein „ausländisches“ Elternteil. Das Nachforschen wird dadurch gewiss nicht vereinfacht und sie hat ein großes Problem mit dieser Materie, anders als ihre vier Schwestern.

Wenn wir die Kinder in der Herberge fragen, wie viele Geschwister sie zum Beispiel haben, antworten sie am ersten Tag meist etwas anderes als am folgenden. Da rührt meiner Meinung nach daher, dass eben diese ausführliche Dokumentation über Familie und Herkunft weitestgehend nicht ausreichend ist.

 

Am Donnerstag war unsere Gruppe nur zu dritt auf der Chacra vertreten und wir mussten feststellen, dass unsere Anwesenheit diese Woche von Tag zu Tag abgenommen hat: Am Montag sind wir noch in voller Besetzung zur Chacra gegangen, seit Dienstag begleitet Franca Marina zum Wawa Wasi, wodurch das morgendliche Ritual Unkraut zu jäten und Gemüse zu ernten wegfallen musste. Am Donnerstag waren wir nur noch zu dritt, da außerdem Regina und Benjamin gefragt worden sind in einem Trauergottesdienst für ein vierzehnjähriges Mädchen Geige bzw. Gitarre zu spielen, das in der vergangenen Woche verstorben ist.

 

Und am Freitag ist hier in Quiquijana Waschtag, was bedeutet, dass zwei von uns die dreckige Kleidung von uns sieben Mann mit warmen Wasser vorwaschen und anschließend in die Waschmaschine werfen, die allerdings mit kaltem Wasser betrieben wird. Eigentlich hatte ich mich zusammen mit Anna-Maria dazu bereit erklärt zu waschen, da ich jedoch in der Nacht von Donnerstag auf Freitag kein Auge zu gemacht habe, schlief ich mich mehr oder weniger aus. Plötzlich stand Anna-Maria und Regina in meiner Zimmertür, die meine dreckige Wäsche abgeholt und mir erzählt haben, dass heute niemand auf der Chacra hilft, sondern alle zusammen waschen. Wenn ich mich nicht so schlecht gefühlt hätte – was ich durch den Gedanken, dass alle anderen hart arbeiten müssen, während ich schlafe, sowieso schon mehr tue – hätte ich auch geholfen. Aber alleine mein Schwindel ließ das an diesem Tag nicht zu.

 

Unser Gastvater Bico (padre cusqueño) hatte diesen Donnerstag (am 22. August) zudem Geburtstag, woraufhin wir ihm am Freitag eine Kappe geschenkt haben. Lili, seine Frau, hat uns empfohlen ihm eine zu schenken, da es ihm peinlich sei, eine Glatze zu tragen. Durch Kappen versucht er diese Unannehmlichkeit zu vertuschen. Ihm merkt man auch deutlich an, dass es ihm gut gefällt, das Wohnzimmer und die Küche unter der Woche wieder für sich und seine Frau zu haben. Jeden Tag sechs – mehr oder weniger – Fremde im Haus zu haben, die ihm die Haare – wortwörtlich – vom Kopf essen, stelle ich mir auch nicht wünschenswert vor. So hat er zusammen mit seiner Frau wenigstens unter der Woche Zeit für sich in seinen eigenen vier Wänden.

 

Für diese Woche verabschiede ich mich von euch!

Es tut mir Leid, dass der Artikel ein solches Ausmaß angenommen hat – beim nächsten Mal fasse ich mich kürzer!

 

In Liebe,

eure Anna! ♥

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Papa (Samstag, 24 August 2013 09:36)

    Hallo Anna,
    toller Bericht, beeindruckend und interessant.
    Weiter so!
    Gruß&Kuss
    Papa

  • #2

    Opa und Oma (Samstag, 24 August 2013 10:18)

    Hallo Anna,
    ein toller Bericht. Wir haben uns den sofort ausgedruckt, damit wir den in Ruhe lesen können. Toll, dass du so ausführlich schreibst. Man hat das Gefühl es mit zu erleben. Hoffentlich rebelliert dein Magen nicht mehr so oft. Bleib Gesund.
    liebe Umarmung und Küsschen von Opa und Oma